Einigkeit innerhalb der Branche zur Zukunft des Nahverkehrs bei den 18. Berliner Bahngesprächen: Neue Strukturen und mehr Tempo bei Entscheidungen sind notwendig
„Das Deutschlandticket kann nicht zurückgedreht werden“
Die Botschaft war am Ende eindeutig: Die Einführung des Deutschlandtickets war eine mutige Entscheidung, die jetzt aber absolut unumkehrbar ist. Die Bahn-Branche fordert den Bund viel mehr dazu auf, endlich alles Notwendige zur Zukunftssicherung des Deutschlandtickets sowie zur weiteren Finanzierung des Personennahverkehrs in die Wege zu leiten. So waren dann am vergangenen Dienstagabend in der Bremer Landesvertretung in Berlin auch Worte wie „Planungssicherheit“ und „Verlässlichkeit“ besonders häufig zu hören. Doch neben dem Deutschlandticket ging es auch um weitere Vertriebs-, Tarif- und Organisationsstrukturen innerhalb der Branche. Dass es mehr Kompromissbereitschaft unter allen Beteiligten geben müsse, war an diesem Abend ebenfalls Konsens.
Die zum 18. Mal vom Bundesverband SchienenNahverkehr (BSN) organisierten Berliner Bahngespräche war mit hochkarätigen und diskussionsfreudigen Branchen-Expertinnen und Experten besetzt. Zum Podium gehörten Oliver Wittke (Vorstandssprecher beim Verkehrsverbund Rhein-Ruhr), Ingo Wortmann (Präsident des Verbands Deutscher Verkehrsunternehmen), Astrid Klug (Leiterin Abteilung F Mobilität, SAARLAND, Ministerium für Umwelt, Klima, Mobilität, Agrar und Verbraucherschutz), Susanne Menge (MdB, Bündnis 90/Die Grünen, Obfrau des Verkehrsausschusses) und Peter Panitz (Geschäftsführer Landesgesellschaft Nahverkehrsservice Sachsen-Anhalt GmbH (NASA) sowie BSN-Präsidiumsmitglied).
Das Deutschlandticket muss zum Wahlkampfthema werden
„Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn wir auf einmal kein Deutschlandticket mehr haben“, formulierte Oliver Wittke in seinem Einführungsvortrag die zentrale Botschaft vor den über 100 Gästen gleich zu Anfang. Der von ihm vertretene Verkehrsverbund Rhein-Ruhr werde beispielsweise im nächsten Jahr 75 Prozent aller Ticketprodukte abschaffen und damit die Tarifstruktur deutlich entschlacken. Ähnlich sei es in anderen Verkehrsverbünden. Ein Zurückdrehen des Deutschlandtickets sei damit praktisch nicht mehr möglich. „Das Deutschlandticket muss ein Wahlkampfthema sein“, fordert Wittke.
Astrid Klug flankiert das mit ihren Ausführungen zur Modellregion Saarland. Eindrucksvoll erklärt sie, wie es im Autoland Saarland gelungen sei, die Anzahl an Ticket-Abonnenten in den letzten fünf Jahren trotz Corona-Krise und dank des Deutschlandtickets zu verdoppeln. „Weitere Neukunden sind möglich, denn das Potenzial des Deutschlandtickets ist noch nicht ausgeschöpft. Aber dafür brauchen wir dringend eine verlässliche Perspektive. Sonst werden beispielsweise Unternehmen keine neuen Jobticket-Verträge abschließen.“
Eine Abschaffung des Deutschlandtickets hätte auch aus Sicht von Ingo Wortmann „desaströse“ Folgen. „Parallel dazu braucht es aber auch das ‚Deutschland-Angebot‘“, so der VDV-Präsident. Gemeint ist eine Verbesserung des ÖPNV-Angebots auch in der Fläche. „Dann kommen wir auch endlich von der Diskussion weg, die wir vor allem in ländlichen Räumen haben. Hier wird häufig gefragt, warum die Menschen dort mit Steuergeldern die ÖPNV-Tickets in Ballungsräumen mitfinanzieren sollen.“ So sieht es auch BSN-Präsidiumsmitglied Peter Panitz: „Wir müssen den Menschen vermitteln, warum das Deutschlandticket allen nützt, und dafür braucht es auch ein verstärktes Angebot im ländlichen Raum.“
Bundestagsabgeordnete Susanne Menge lenkt die Diskussion auf ein übergeordnetes Thema: „Das Deutschlandticket ist ein großer Wurf, auch im Hinblick auf die Klimaziele. Es ist einer von vielen notwendigen Schritten für eine nachhaltige Mobilitätswende. Das heißt: weniger Verkehr, zugunsten von mehr Mobilität.“
Astrid Klug nimmt diesen Gedanken mit Blick auf die bevorstehende Bundestagswahl auf und meint: „Wir müssen miteinander besprechen, welche Rollen der ÖPNV und die Klimapolitik in unserer Gesellschaft künftig haben sollen. Und den Zielen müssen dann auch die notwendigen Taten folgen, beispielsweise in der Finanzierung.“
Potenzial zur Finanzierung des Deutschlandtickets sieht Oliver Wittke beispielsweise in einer dritten Säule neben der des Bundes- und des Landesanteils. „Ich kann mir gut vorstellen, dass das Deutschlandticket als Jobticket Bestandteil künftiger Tarifverträge zwischen den Tarifpartnern wird. Dann gibt es eben etwas weniger Lohnerhöhung, dafür aber bundesweite Mobilität“, schlägt Oliver Wittke vor und erntete dafür
Applaus vom Publikum.
Zusätzlich brauche es laut Ingo Wortmann vereinfachte Finanzierungsstrukturen. Dabei könne es nur um eines gehen: „Die Leistung, die gefahren wird, muss auch bezahlt werden.“
Aus dem Saal meldete sich dann Bundestags-Verkehrsausschussmitglied Michael Donth (CDU) zu Wort: „Die Union wird dabei helfen, das Regionalisierungsgesetz, dass die Finanzierung des Deutschlandticket bis einschließlich 2025 sichert, über die Rampe zu bringen.“ Er sei auch persönlich dafür, dass das Deutschlandticket erhalten bleibe. „Aber ich sehe aktuell nicht, dass sich der Bund für alle Zeit daran beteiligen werde.“
Klimaschutz sei eine Bundesaufgabe, konterte Oliver Wittke, „deshalb kommt der Bund da nicht aus der Verantwortung.“
Susanne Menge ergänzt: „Es ist die Aufgabe der neuen Bundesregierung das System zu stärken. Und das geht nur mit ausreichend Finanzmitteln und einem zuverlässigen und aufeinander abgestimmten Nah- und Fernverkehr, um die guten Entwicklungen nicht wieder zurückzudrehen.“ Die Forderung, dass das Deutschlandticket Wahlkampfthema werden müsse, wurde also zumindest am Abend der Berliner Bahngespräche erfüllt.
Bereitschaft zu Kompromissen und Strukturänderungen
Die Podiumsteilnehmer sehen auch Möglichkeiten von strukturellen Veränderungen sowohl bei den Finanzierungssäulen als auch bei der Anzahl der Aufgabenträger.
Ingo Wortmann formuliert das so: „Wir brauchen Strukturen, die uns dazu befähigen, wieder unsere Kernaufgaben, nämlich das Befördern von Passagieren, erfüllen zu können. Die Strukturen müssen so gut wie nötig und so schlank wie möglich sein.“
Oliver Wittke wird konkreter: „Das Deutschlandticket war ein Treiber für Digitalisierung. Das Problem ist: Nahezu jeder Aufgabenträger digitalisiert auf seine Weise oder schafft seine eigenen Standards und Kanäle. Das ist nicht der richtige Weg.“ Auch über eine deutliche Reduzierung der Anzahl an Aufgabenträgern müsse gesprochen werden. „27 sind zu viel. Die Hälfte würde es auch tun“, so Wittke. Die Branche müsse schon auch die eigenen Hausaufgaben machen und vor allem effizienter werden damit die Zukunft des Nahverkehrs gelingt.
Astrid Klug ergänzt: „Eine Verschleppung von Entscheidungen darf es jetzt nicht geben. Es braucht Kompromissbereitschaft von allen Seiten. Beim Bund und auch bei den Ländern. Man kann bei einem solch übergeordneten Thema nicht mehr alles selbst entscheiden wollen. Das führt in eine Sackgasse.“
Peter Panitz fasst das Thema so zusammen: „Wir brauchen nach der Bundestagswahl eine Doppelstrategie, sowohl für die kurzfristigen Finanzierungslösungen als auch für die langfristigen Herausforderungen. Weitere Risiken wie der ausstehende europagerichtliche Entscheid zu Trassenpreisen sowie die künftigen Investitionen in die Infrastruktur müssen in diesen Strategien berücksichtigt werden.“
Zum Schluss formuliert Oliver Wittke noch einen Wunsch: „Wenn auf politischer Ebene wieder einmal über Themen wie das Deutschlandticket beraten wird, dann wäre es schon gut, wenn auch die gefragt würden, die die Verkehre organisieren. Die wissen nämlich sehr gut, was sie brauchen.“
BSN-Vizepräsident Thorsten Müller dankte anschließend allen Beteiligten fürs Kommen und die lebhafte Diskussion. „Wir sind trotz aktuell dunkler Wolken am Schienenhimmel Begeisterte des Systems Schiene. Ich bin zuversichtlich, dass es uns gemeinsam auch in diesen Zeiten gelingen wird, das Reisen auf Schienen für alle wieder zu einem guten Erlebnis zu machen.“
Quelle: Bundesverband SchienenNahverkehr